Wehrhafte Gräser
- wie kommt das Gift ins Gras?
Pferde sind Grasfresser. Trotzdem haben immer häufiger Pferde gesundheitliche Probleme beim Weidegang. Zuerst hieß es: Eiweiße. Dann hieß es: Zucker, genauer Fruktane. Inzwischen mehren sich die Beweise: Gräser können hochwirksame Gifte enthalten. Aber wie kommt das Gift (vgl. Beitrag Vergiftung von Pferden durch Gräsergifte) ins Gras? Hat da jemand insgeheim an harmlosen Pflanzen „rumgemacht“, die ihr Leben lang nur darauf warten abgefressen und zertrampelt zu werden?
Gleich vorweg: Nein, keineswegs. Hier ist nichts geheim. Gräser waren nie wehrlos! Bei den hochwirksamen Giften handelt es sich um rein natürliche Wirkstoffe. Und die Selektion auf die Härtesten und Giftigsten war oftmals keineswegs Zuchtziel, sondern häufig eine Folge unbeabsichtigter Selektion durch gnadenlose Überweidung. Was also macht Gräser giftig, was ist geschehen?
Einer für alle - alle für einen
Die Wissenschaft macht gerade eine unglaubliche Entwicklung durch, von der Außenstehende kaum etwas mitbekommen. Die Entdeckungen betreffen insbesondere die Bereiche Pflanzenzüchtung, Pharmakologie und Stressverhalten der Pflanzen (Ökophysiologie). Auslöser war die Entdeckung der Giftigkeit der Gräser. Da das dahinter stehende System sich keineswegs als Einzelfall, sondern als die Regel heraus gestellt hat, müssen viele Lehrbücher neu geschrieben werden. Nicht völlig neu, das nicht, doch sind die Zusammenhänge anders, als bisher geglaubt.
Bisher dachten wir, dass vor 400 Millionen Jahren die Pflanzen als Grünalgen-ähnliche Gewächse das Land eroberten. Das ist nicht falsch, das taten sie auch. Neu ist aber die Erkenntnis, dass bereits diese ersten Pflanzen Partner an Land mitbrachten, mit denen sie bereits im Wasser zusammenlebten. Partner, die mal nützlich, mal eher hinderlich waren. Die Rede ist von Pilzen, die mal als Parasit, mal eher als Symbiont mit der Pflanze verbunden waren. Nun, das scheint keine umwerfende, neue Erkenntnis zu sein. Aber nur auf den ersten Blick. Denn auf den zweiten heißt es Abschied nehmen von einem lieb gewonnenen Weltbild, oder besser: Pflanzenbild. Worum geht es?
Sie alle kennen diese seltsamen Gewächse, die als Krusten wie Vogeldreck teilweise bunt auf Dächern und an Ästen wachsen, die oft fälschlich als „Isländisch Moos“ bezeichnet in Grab- oder Weihnachtsgestecken Verwendung finden (in Gestecken verwendet man die Fensterflechte Cladina stellaris, in Kräutermischungen z. B. gegen Atemwegsprobleme hat nur Cetraria islandica, "Isländisches Moos, Rentierflechte" etwas zu suchen!). Sie gedeihen auf Steinen oder hängen im Gebirge wie Bärte von feuchten Ästen. Die Rede ist von den sogenannten Flechten. Das ist kein Moos. Das sind auch keine Algen – obwohl wir der Sache da schon näher kommen. Flechten sind eine Lebensgemeinschaft ganz unterschiedlicher Organismen. Sie bestehen in ihrem Hauptkörper vorwiegend aus einem Pilzgeflecht. In dieses Pilzgeflecht eingebettet und darin geschützt sowie mit Nährstoffen versorgt finden sich Algen: Grünalgen können über die Photosynthese Lichtenergie in Form von Zuckern speichern und für den Pilzkörper nutzbar machen. Die Pilze können das nicht, sie halten sich dazu die Algen wie Haustiere. Auch Grünalgen sind bereits eine Lebensgemeinschaft, denn die Zellorganellen, also die winzigen Strukturen in der Algenzelle, in denen die Photosynthese abläuft, die sogenannten Chloroplasten, sind so etwas wie einverleibte, verschluckte aber nicht verdaute Blaualgen (sogenannte „Endosymbionten-Theorie“). Frei lebende Blaualgen haben aber eine besondere Fähigkeit, weshalb die Flechten auch Blaualgen gerne als Partner wählen: Blaualgen können den Luftstickstoff binden und als Nährstoff nutzbar machen. Ein Pilz, der diese Partner an sich binden kann, profitiert also von den Zuckern der Grünalge bzw. von Zuckern und Stickstoffverbindungen der Blaualgen. Auch Braun- und Rotalgen kommen als Partner der Pilze in Frage. Normaler Weise entscheidet so ein Pilz sich für nur einen einzigen Algenpartner, aber in manchen Flechten finden sich auch mehrere. Je nach Zusammensetzung von Pilz und Alge(n) definieren sich daraus die verschiedenen Lebensgemeinschaften, die wir dann als konkrete Flechten bestimmen und benennen.
Schön und gut, aber was hat das mit Gräsern zu tun?
Wunderwaffe der Zukunft
Ganz einfach: Manche Wissenschaftler bezeichnen heute aufgrund der neuen Erkenntnisse alle Pflanzen, auch die „höheren Pflanzen“, als „umgekrempelte Flechten“. Ein- und dieselbe Idee der Natur, aber spielerisch umgekrempelt realisiert: das Innerste nach außen gekehrt. Die Alge übernimmt den Hauptkörper, der Pilz wird von außen völlig unsichtbar als minimaler Anteil ins Innere der Alge verfrachtet. Und wie bei der Flechte sorgt der grüne Körper für mit Hilfe des Sonnenlichts die Kohlenhydrate, während der Pilz wichtige Wirkstoffe für die Gemeinschaft produziert. Diese Gemeinschaft wird dann von uns als Pflanzen angesprochen.
Stellen Sie sich also bitte mal eine riesige Eiche vor und machen Sie sich klar, dass da eine Lebensgemeinschaft vor Ihnen steht, die in einem gemeinsamen Körper auftritt … Ups. Bewundern Sie eine Rose, betrachten Sie eine Schafgarbe oder eine andere Heilpflanze, und machen Sie sich klar, dass die Pflanze die Kohlenhydrate bildet, mit denen sich ein winziger Partner in ihr ernährt, der die von uns so begehrten Wirkstoffe für unsere Arzneien produziert.
Längst sind Pharmakonzerne und Pflanzenzüchter in eine Art Goldrausch-Stimmung verfallen und machen Jagd – nicht auf spezielle Heilpflanzen oder Nutzpflanzen, nein, sie machen Jagd auf spezielle Partner im Innern dieser Pflanzen. Die Pharmaindustrie versucht aus den begehrten Heilpflanzen diese Partner zu isolieren und in Petrischälchen zu kultivieren in der Hoffnung, die wertvollen Wirkstoffe in großer Menge ganz ohne Pflanze im Labor herstellen zu können. Die Pflanzenzüchter suchen nach besonderen Mikro-Partnern, die ihren Nutzpflanzen die erwünschten Eigenschaften verleihen. Neben Pilzen finden sich auch andere Mikroorganismen als Lieferanten wichtiger Wirkstoffe innerhalb der Lebensgemeinschaft. Die Übergänge vom Parasiten zum Symbionten sind fließend. Oft können die Mikroorganismen über Artgrenzen hinweg auf ganz unterschiedliche Wirtspflanzen übertragen werden. Während sie auf der einen Pflanze von großem Nutzen als Symbiont sind, können sie auf einer anderen Wirtspflanze als Parasit zu schweren Schäden führen. Je besser die Partner aneinander angepasst sind, desto nutzbringender scheint ihr Zusammentreffen für beide Seiten zu sein. Vielleicht ist der Schaden durch Parasitismus sozusagen ein Unfall, verursacht durch ein nicht beabsichtigtes Zusammentreffen neuer Partner, die sich nicht verstehen. Auf einmal bekommt Goethes Gedicht vom Naturbetrachten eine ganz konkrete Bedeutung:
Epirrhema
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten:
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ists ein Vieles.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Partner unserer Gräser
Bei unseren Gräsern spielen vorwiegend Pilze die Rolle der Wirkstoffe produzierenden Partner. Da die Pilze unserer Futtergräser innerhalb einer Pflanze gefunden werden, nennt man sie „Endophyten“ von endo (griechisch) innerhalb und phyto (griechisch) Pflanze. Das Gras bietet dem Pilz also ein feuchtes Substrat, seinen Pflanzenkörper, in dem er gedeihen kann, in dem er zwischen den pflanzlichen Zellen in hauchdünnen Fäden wächst, ohne in die Zellen einzudringen. Das Gras bietet zudem Kohlenhydrate für seine Ernährung, sprich Fruktane, und ggf. auch andere Nährstoffe. Im Gegenzug bringt der Pilz komplizierte Wirkstoffe in die Lebensgemeinschaft ein. Diese werden in der Pflanzenphysiologie oft als „sekundäre Pflanzenstoffe“ bezeichnet, da sie zwar nicht lebenswichtig sind, wohl aber wichtige Funktionen wie das Pflanzenwachstum, die Widerstandskraft und Fraßabwehr steuern.
Wer nun ein Grass auf bestimmte Eigenschaften selektiert, z. B. durch gezielte Zucht, oder auch völlig unbeabsichtigt durch gnadenlose Überweidung auf „Trampelausläufen“, der betreibt eine Auswahl auf ganz bestimmte Pilzpartner, deren Wirkstoffe dem Gras auch unter widrigsten Verhältnissen zu überleben helfen. Leider sind diese Wirkstoffe Fraßabwehrstoffe, die teilweise hochgradig viehgiftig sind. Denn die Partner unserer Futtergräser Deutsches Weidelgras, Rohrschwingel und Wiesenschwingel gehören zur nächsten Verwandtschaft der Mutterkornpilze (vgl. Beitrag Mutterkorn auf der Pferdewiese) und stellen Wirkstoffe aus eben dieser Giftstoffklasse her.
Auch unser Apfelbaum lebt mit Endophyten vergesellschaftet und auch diese Endophyten können Wirkstoffe bilden. Wir können über konventionelle Pflanzenzüchtung problemlos den Apfel für Schneewittchen züchten. Doch wer möchte da schon reinbeißen? Der Wurm wird’s nicht tun.
In diesem Sinne: Heute schon ins Gras gebissen?
Dr. rer. nat. Renate Vanselow, Diplom-Biologin
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10.03.2018