Der Weg des blinden Vertrauens

Blindheit - ein Todesurteil?

Ellen Drost und Nantan. Foto: Simone Kochanek

Leidenschaft und Hingabe für ihre Pferde sind Gemeinsamkeiten, die viele Pferdemenschen miteinander verbinden. Die beiden Pferdebesitzerinnen Ellen Drost und Eveline Tejero verbindet darüber hinaus noch eine Gemeinsamkeit. Die Pferde, die sie reiten, sind blind, komplett blind.

Beide Frauen setzen sich dafür ein, dass bezüglich blinden Pferden in der Reiterwelt eine neue Sichtweise Einzug hält.

Ursachen

Die am häufigsten diagnostizierte Augenerkrankung des Pferdes ist die Periodische Augenentzündung, auch Mondblindheit oder Equine rezidivierende Uveitis (ERU) genannt. Pferde sind aufgrund ihrer Anatomie recht anfällig für Probleme im Bereich der Augen. Das Pferdeauge befindet sich nicht sehr tief im Schädelknochen und so ist es Staub, Bakterien und Pilzen stark ausgeliefert. Die ERU ist weltweit verbreitet und die vorherrschende Ursache für eine krankhaft erworbene Blindheit bei Pferden. Schätzungen der Befallsquote reichen von ca. 8 – 12 % der weltweiten Pferdepopulation.

Bei den möglichen Ursachen für die in unbestimmten Abständen wiederkehrenden Entzündungen des Auges werden nebst Leptospiren auch Streptokokken, Virusinfektionen, allergische Reaktionen, Autointoxikationen und erbliche Disposition als Ursache in Betracht gezogen. Pferde infizieren sich häufig über den Urin oder Exkremente von Mäusen oder Ratten mit dem Erreger „Leptospira“. Bei einigen Pferden gelangt dann der Erreger nicht nur in die Blutbahn, sondern in ein oder beide Augen und führt dort zu einer Immunantwort des Körpers, die eine Entzündung des Auges zur Folge hat. Durch die immer wiederkehrende Entzündung kommt es zur Schädigung verschiedener innerer Strukturen des Auges, bis hin zu einer Ablösung der Netzhaut, die schließlich zur Erblindung des Auges führt. Es können sowohl die vorderen Bereiche des Auges als auch die hinteren Teile des Auges betroffen sein. Wenn die Augenentzündung in den vorderen Bereichen auftritt, so ist dies hochschmerzhaft und die Pferde zeigen Symptome wie geschwollene Augenlider, starker Tränenfluss, gerötete Bindehäute, zusammengekniffene Augen und Lichtscheue. Sind die hinteren Strukturen des Auges betroffen, so zeigt das Pferd wesentlich weniger Schmerzsymptome und die Entzündungsschübe laufen oft unbemerkt. Obwohl das Pferd keine Symptome zeigt, kommt es zu einer massiven, nicht mehr rückgängig zu machenden Schädigung des Auges.

Erblindung ein Todesurteil?

Es ist verständlich, dass Pferdebesitzer mit der Diagnose „Erblindung“ überfordert sind und meist hilflos dastehen. Der Vorstellung, dass auch blinde Pferde eine Daseinsberechtigung haben und durchaus ein glückliches und artgerechtes Leben führen können, stehen viele Pferdebesitzer und auch Tierärzte skeptisch gegenüber. Noch viel zu oft bedeutet die Diagnose „komplette Erblindung“ das Todesurteil für ein Pferd.

Das muss nicht sein! Es darf auch nicht sein, dass sich das Recht auf Leben auf den Nutzungswert eines Pferdes reduziert!

Lucero und A. Aquilar

Durch die vielen erlebten Einzelschicksale von erblindeten Pferde, die den Weg ins Jenseits antreten mussten, weil Pferdebesitzer mit der Diagnose „Erblindung“ überfordert sind, hat sich Ellen Drost dazu entschlossen, ein Netzwerk aufzubauen, um einerseits eine Plattform für Erfahrungsaustausch zu schaffen und andererseits Pferdebesitzern mit erblindeten Pferden zu zeigen, dass auch mit einem blinden Pferd fast alles möglich ist.

Der Fall Nantan

Ellen Drost: „Wir kümmern uns mit Recht um Behinderte und vernachlässigte Menschen in der Gesellschaft. Wieso aber kann man Tieren, die mit ihrer Behinderung zurechtkommen und Lebensmut zeigen, nicht auch das Recht auf Leben eingestehen? Immer wieder höre ich, ein blindes Pferd muss eingeschläfert werden, da es nicht mit seiner Blindheit zurechtkommt. Der Frage nach Lebensqualität für das Pferd und Gefährdung anderer musste ich mich selber stellen, als mein Pferd Nantan, ein Knappstruppermix, mit 10 Jahren an periodischer Augenentzündung erkrankte. Es war ein schleichender Prozess. Nach einer Untersuchung in der Pferdeklinik kam die Schockdiagnose: Linsenablösung auf dem linken Auge und Fibrinablagerungen auf dem rechten Auge. Mit anderen Worten: das linke Auge war zu diesem Zeitpunkt bereits blind und nicht mehr zu retten. Ich quälte mich mit der Entscheidung, ihn einschläfern zu lassen, habe dann aber den Entschluss gefasst, dass der Verlust des Augenlichtes nicht sein Ende bedeuten soll. In einer Spezialklinik habe ich Nantan operieren lassen. Das linke Auge wurde verödet und an dem rechten Auge wurde eine Vitrektomie durchgeführt. Die Schmerzen im linken Auge blieben nach der Operation, und daher entschloss ich mich, das kranke Auge entfernen zu lassen. Nantan war ein Pferd mit großem Herzen und viel Lebensmut. Ich entschied mich dafür die Herausforderung, seine Blindheit anzunehmen und schaffte, was viele für unmöglich hielten: Nantan durfte ein langes und glückliches Leben geniessen und mit ein wenig Rücksicht auf seine Sehbehinderung war praktisch alles möglich, wie vor seiner Erblindung – Reiten auf dem Reitplatz und im Gelände, Trail, Bodenarbeit, Zirkuslektionen usw.

Mighty auf dem Trail

Der Anfang unseres Weges war sehr steinig, da ich ganz allein dastand. Es gab keine Bücher und keine Internet-Foren. So erging es vielen Menschen mit ihren blinden Pferden und viele Tiere mussten eingeschläfert werden, weil ihre Besitzer hilflos und falsch informiert waren. Um ihnen zu helfen und Pferde vor ihrem tödlichen Schicksal zu bewahren, schrieb ich selber ein Buch („Das Blinde Pferd“, Ellen Drost) und stellte eine HP ins Internet (http://ellen-problindhorse.de). Heute sehe ich die Erfahrungen, die ich mit und durch Nantan machen durfte, als großes Geschenk an mich.“

Der Fall Lucero

Der 11 jährige PRE Wallach Lucero ist in jungen Jahren schleichend erblindet. Für sein schwindendes Sehvermögen gibt es keinen medizinischen Befund. Vor einigen Jahren hat ein Augenspezialist die erschütternde Diagnose gestellt, dass Lucero beidseitig höchstens noch hell von dunkel unterscheiden könne und daher medizinisch gesehen als blind gelte. Für seine Besitzerin, Eveline Tejero, war das eine aussichtslose und niederschmetternde Diagnose. Das Umfeld machte ihr nicht viel Hoffnung. Ein komplett blindes Pferd gilt als unreitbar und hat somit keinen Nutzwert mehr, lautet die standardisierte Meinung auch bei vielen Tierärzten. Lucero war dazu noch ein sehr temperamentvoller, mental starker Spanier, der nicht einfach im Handling war. Eveline hat Lucero, der ihr klar signalisierte, dass er leben wollte, trotz großer Bedenken, nicht aufgegeben. Auf der Suche nach ähnlichen Schicksalen und Unterstützung ist sie vor einigen Jahren auf „Pro Blind Horse“ von Ellen Drost gestoßen und konnte von Ellens großer Erfahrung im Umgang mit blinden Pferden profitieren. Heute weiß Eveline: Auch mit einem blinden Pferd ist alles möglich. Alles sogar noch etwas intensiver und tiefer!

Eveline Tejero und Lucero im Gelände

Lucero hat gelernt, mit seiner Sehbehinderung umzugehen, er hat seine anderen Sinne geschärft und vertraut seiner Reiterin voll und ganz. Er wird gebisslos im Gelände geritten, longiert und auch Bodenarbeit oder Verladen und Reiten in der Reithalle ist möglich. Er hat gelernt, auf Stimmkommandos zu hören, wenn er einmal mit einer Situation überfordert ist. Es war ein langer Weg, ein Weg der Geduld, der Selbstreflektion und oftmals auch ein Weg der Demut. Ein Fluchttier, das ein lebensentscheidendes Sinnesorgan nicht einsetzen kann, muss sich voll und ganz auf sein „Leittier“ verlassen können. Das kann es nur, wenn das Leittier klar, souverän und kongruent ist. Eveline musste ihre Ansichten in Bezug auf Umgang mit Pferden und Reiten komplett überdenken. Lucero hat seiner Besitzerin ihr Verhalten und ihre Emotionen stets klar und konsequent gespiegelt, bis sie daraus ihre Erkenntnisse gezogen hat. Das machen auch sehende Pferde, aber blinde Pferde tun dies mit einer enormen Klarheit. Durch diese Klarheit hat Eveline den Weg zur mentalen Kommunikation gefunden. Es wurde ihr bewusst, wie unermesslich wichtig es ist, bei der Arbeit mit dem Pferd stets mit allen Sinnen präsent zu sein und klar zu kommunizieren, egal ob mit Worten, Körpersprache, Emotionen oder mentalen Bildern. Pferde verstehen verschiedene Sprachen.

Unterstützung für Halter erblindeter Pferde

Ellen und Eveline hoffen, dass durch ihre Erfahrungen und durch das von Ellen gegründete Netzwerk „Pro Blind Horse“ in Zukunft mehr erblindete Pferde eine Chance erhalten. Blinde Pferde haben durchaus eine Daseinsberechtigung und es macht große Freude, mit blinden Pferden zu arbeiten. Man darf sich einfach nicht durch eine Behinderung einschränken lassen. Mit Geduld und Zuversicht ist alles möglich.

Mighty braucht nicht einmal Zaumzeug

Eveline beschreibt Ihren Weg mit ihrem blinden Lucero folgendermaßen:

„Ich habe durch die Erblindung von Lucero gelernt, mit dem Herzen zu sehen. Ich bin immer wieder tief berührt von dem unerschütterlichen Vertrauen, das Lucero in mich hat. Pferde sind großartige Lehrmeister. Wer mit seinem Pferd eine emotionale Verbindung pflegt und den Weg des Vertrauens geht, frei von Zwängen, der wird mit seinem Pferd eine wunderschöne Beziehung leben, in der es kaum Begrenzungen gibt. Pferde sind harmoniebedürftig und brauchen Vertrauen und Klarheit. Außerdem folgt ein Pferd immer unserer Vorstellung. Bei der Arbeit mit blinden Pferden hat sich diese Methode sehr bewährt. Ein blindes Pferd ist, genauso wie ein sehendes Pferd, in der Lage, visualisierte Bilder zu sehen und umzusetzen. Jedes Pferd wird sich seinem Menschen vertrauensvoll anschließen, wenn es eine geduldige, faire und klare Führung bekommt. Es ist sehr bereichernd zu erleben, was alles möglich ist, wenn man willens ist, seine Zweifel, Zerrissenheit, Ängste und Vorurteile zu überwinden und den Weg des Vertrauens und somit des Herzens zu gehen.“

Eveline Tejero und Lucero

Die blinden Pferde von Ellen und Eveline führen ein glückliches, pferdegerechtes Dasein und genießen ihr Leben. Beide Frauen sind der Überzeugung, dass die Diagnose „Erblindung“ nicht das Ende bedeutet, sondern den Beginn eines neuen Weges. Ein Weg des Glaubens, des Fühlens und des Vertrauens und somit ein Weg in ein harmonisches und bereicherndes Zusammensein mit dem wundervollen Wesen Pferd.

Mit den Worten Antoine de Saint-Exupérys:

„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Weitere Informationen unter: http://ellen-problindhorse.de/

Eveline Tejero

25.05.2018

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