Atypische Weidemyopathie
Mögliche Ursachen
Wenn der Ahorn bunt im Herbstlaub steht, geht unter Pferdehaltern die Angst vor der atypischen Weidemyoglobinurie um. Doch ist tatsächlich der Ahorn mit seinem Gift Hypoglycin die Ursache dieses Pferdesterbens? Oder ist der Ahorn nur Zeuge anderer Täter und zeigt mit seiner prächtigen Laubfärbung eine spezielle Witterung im Herbst an, die diese Vergiftung begünstigt?
Wieder einmal ist es Herbst, wieder einmal treten Fälle der atypischen Weidemyopathie (Myopathie, Myoglobinurie) in Europa auf. Dr. Dominique Votion von der „Atypical Myopathy Alert Group; AMAG“ in Belgien ruft zur Vorsicht und zur Meldung von Erkrankungen auf. Die artgerecht setzte sich in der Vergangenheit bereits mehrfach mit dieser Erkrankung auseinander (siehe auch Atypische Weidemyopathie und Neues zur atypischen Weidemyopathie).
Was ist atypische Myopathie „AM“?
AM ist eine Erkrankung, bei der der Fettstoffwechsel der Muskeln gestört ist. Die Fettsäureoxidation in den Mitochondrien (Energiekraftwerke der Zellen) wird unterbrochen mit der Folge, dass die Muskelzellen die Fette nicht mehr als Energiequelle nutzen können.
Unter einer Myopathie versteht man allgemein eine Muskelerkrankung, bei der der Muskel geschädigt wird. Dabei können die Zellwände einzelner Muskelfasern betroffen sein, aber auch die ganzen Muskelfasern. Letzteres wäre eine Muskelfasernekrose, auch Rhabdomyolyse genannt. Bei einer Myopathie können einzelne Muskeln, einzelne Muskelpartien oder auch der gesamte Bewegungsapparat betroffen sein. Muskeln enthalten den Farbstoff Myoglobin. Werden Muskelzellen zerstört, dann wird dieser braun-rote Farbstoff über die Nieren und den Urin ausgeschieden.
Daher stammt der Name Myoglobinurie: Myoglobin findet sich im Urin. Der Harn färbt sich blutrot bis dunkelbraun- schwarz. Auch der Herzmuskel, die überlasteten Nieren (Nierenversagen) und die Atmung (Zwerchfell) können betroffen sein. Dieser Zustand ist absolut lebensbedrohlich. Bei fortgeschrittener Zellschädigung finden sich Enzyme aus den Zellen im Blut. Der Wert des Enzyms Creatinkinase (CK-Wert) steigt drastisch an. Kurz vor dem Tod treten Streckkrämpfe und Ruderbewegungen auf.
Die Sterblichkeitsrate bei dieser Erkrankung ist sehr hoch. Bei einigen Ausbrüchen der Krankheit lag sie bei über 90%. AM tritt überwiegend im Herbst auf. Die Erkrankungswellen enden abrupt mit dem Einsetzen von Dauerfrost. Manchmal treten im Frühjahr erneut Erkrankungen auf, bis der Sommer die Wetterkapriolen des Frühjahrs beendet. Auf Weiden, auf denen diese Erkrankung aufgetreten ist, besteht auch in den Jahren danach ein erhöhtes Risiko. Rinder erkranken nicht an AM, können also problemlos auf verdächtigen Flächen grasen.
Historischer Hintergrund
Erstmals wurde im Herbst 1939 über eine Muskelerkrankung bei Weidetieren in North Wales berichtet. 1984 wurde ein Ausbruch der Erkrankung in Schottland registriert und europaweit bekannt.
Im Winterhalbjahr 1995/1996 kam es in Norddeutschland zu einem bis dahin nicht gekannten Massensterben, von 115 erkrankten Pferden starben 111. Dabei handelte es sich zumeist um ganzjährig draußen gehaltene Robustpferde, überwiegend Islandpferde. Der Name „atypische Weidemyopathie“ für diese Erkrankung existiert erst seit 1997. Ab 2000 kam es dann zu Erkrankungen auf dem europäischen Kontinent allgemein (Deutschland, Frankreich, Belgien, Schweiz). Inzwischen werden Erkrankungen aus ganz Europa sowie sehr ähnliche Fälle aus Nordamerika gemeldet. Die Sterblichkeit sinkt, auch dank intensiver Forschung, Aufklärung und tiermedizinischer Betreuung.
Verwechslungsmöglichkeiten der AM mit ähnlichen Erkrankungen
Die AM kann leicht mit Lumbago (Kreuzverschlag, Feiertagskrankheit) verwechselt werden, mit dem sogenannten Tying up-Syndrom oder der (Red) Maple Toxicosis.
Situationen, in denen die Erkrankung auftritt
Wenn man die gehäuft auftretenden Erkrankungen mit etwas Abstand betrachtet, dann fällt auf: Sie kommen durchweg in Situationen vor, in denen besonders ideale Bedingungen für Zersetzer (Destruenten) geschaffen wurden – von der Witterung, den örtlichen Gegebenheiten sowie vom Menschen. Sehen wir einmal genau hin.
Als erhöhtes Risiko für AM gelten:
-
- Organische Düngung mit Mist – bietet organisches Substrat und beimpft das Grasland mit pilzlichen und bakteriellen Zersetzern
- Trübes Wetter ohne Sonnenschein – erhöhte Feuchtigkeit
- Kein starker Frost – geeignete Temperaturen für Pilze; Frost bringt Aktivitäten von Zersetzern zum Erliegen und zerstört u. U. Wirkstoffe von Angreifern und/oder Verteidigern
- Übermäßig viel Regen nach langer Dürre (Indianersommer) – angehäuftes, durch Trockenheit konserviertes organisches Material kann nach Befeuchtung schlagartig abgebaut werden
- Heftige (Herbst-) Stürme – tragen Luftschichten über pflanzlichem Material ab und bringen Sporen von Zersetzern direkt an ihr Substrat
- Hohe Luftfeuchtigkeit – sorgt für gute Lebensbedingungen für Zersetzer
- Falllaub auf dem Weideland – bietet weiteres organisches Material
- Fließgewässer oder nasse Senken im Bereich der Weide – bieten Feuchtigkeit für Boden und Luft, also optimale Bedingungen für Zersetzer
- Überweidetes Grasland – befindet sich im Stress und wird ggf. von seinen Endophyten mit Wirkstoffen verteidigt
Offenbar hat das Problem mit Zersetzern zu tun, mit massenhaft noch nicht abgebautem organischem Material, idealen Bedingungen für dessen Zersetzung sowie mit a) Hunger durch wenig Gras oder b) gestressten Gräsern.
Gestresste Gräser, die mit Endophyten infiziert sind, können auf Fraßfeinde (Weidetiere von der Feldmaus bis zum Büffel, aber auch parasitäre bzw. pflanzliches Material zersetzende Pilze und Mikroorganismen) mit giftigen Abwehrstoffen reagieren. Ganz konkret werden Futtergräser auf Gelbrostresistenz gezüchtet.
Wenn im Herbst der Gelbrost, ein parasitärer Pilz, die ganze Graslandschaft durch seinen Befall gelb färbt, dann sollen die Futtergräser ebenso wie die betroffenen Getreide diesem Angriff trotzen. Normalerweise schlägt der Gelbrost im September zu. Doch wenn es im September zu trocken ist, dann verschiebt sich die jährliche Gelbrost-Massenvermehrung nach hinten, zumeist auf den Oktober.
Giftige Gräser-Endophyten, die im Labor auf Nährmedium kultiviert wurden, zeigen gegen parasitäre Pilze eine sogenannte Hemmhofbildung. Das bedeutet, dass der Parasit dort, wo der Endophyt wächst, keine Chance hat. Der resistente, pilzliche Endophyt sorgt durch fungizide Wirkstoffe dafür, dass der parasitäre Pilz in seiner Nähe nicht wachsen kann. Sehr schön zu sehen ist ein solcher Hemmhof in der Petrischale in der Veröffentlichung „Dienstleistung im Verborgenen“ von Prof. Paul (2000).
Welche fungiziden Wirkstoffe mag der Gras-Endophyt hier produzieren? Prof. Paul betrachtet in dieser Veröffentlichung die Infektion mit geeigneten Endophyten positiv und weist darauf hin, dass insbesondere im Bereich der Rasengrassorten bereits infizierte Gräser auf den europäischen Markt drängen.
Mögliche Ursachen der AM
Als Quelle der Vergiftung werden folgende Möglichkeiten diskutiert:
Ionophore
Ionophore sind antibiotisch wirksame Substanzen, die Membranen gezielt durchlässig für bestimmte Ionen machen und so Organismen zum „Auslaufen“ bringen. Die Membran wird auf einmal undicht für diese Ionen. Die Funktion der Membran als Barriere zum Aufbau eines Konzentrationsgefälles wird zerstört. Der betroffene Organismus stirbt.
Während Geflügel und Rinder problemlos mit diesen Antibiotika behandelt werden, sind bereits Spuren dieser Stoffe für Pferde tödlich. Die europäische Giftdatenbank an der ETH Zürich bietet fundiertes Hintergrundwissen, wenn man dort den Begriff „Ionophore“ eingibt und dann auf „Pferd: Ionophore“ klickt. Die Symptome der Vergiftung von Pferden durch Ionophoren sind identisch den Symptomen der AM. Daher waren diese Stoffe der allererste Verdacht – allerdings konnten sie nie in an AM erkrankten Pferden nachgewiesen werden.
Bakteriengifte: Letaltoxin von Clostridium sordellii
Doch ist dieses schlammbewohnende Clostridium nur Zeuge eines Sterbevorgangs, indem es ein vorhandenes Substrat besiedelt, oder ist es der Täter? Clostridium sordellii wird in der Rechtsmedizin zur Leichenaltersbestimmung verwendet. Das spricht weniger für einen Täter, mehr für einen Zeugen, wie die Fliegenmaden, die die Rechtsmedizin ebenfalls nutzt, um den Todeszeitpunkt zu ermitteln.
Als 2015 in Kasachstan ein Massensterben der unter Schutz stehenden Saiga-Antilopen in freier Wildbahn ausbrach, war nach zwei Wochen ein Drittel des weltweiten Bestandes (zuvor 250.000 Individuen) dieser Tierart tot. Erste Ergebnisse wiesen zwei Bakterien in den Kadavern nach, Pasteurella multocida Serotyp B und Clostridium perfringens. Vermutlich war das Clostridium hier nur ein Zeuge, nicht der Täter.
Pilzgifte allgemein
Hier stehen insbesondere zersetzende (Schimmel-) Pilze in Verdacht, aber auch Parasiten wie die Teerfleckenkrankheit (Rhytisma acerinum) der Blätter von Ahornbäumen.
Der Berg-Ahorn wird aufgrund der in Europa seit jeher verbreiteten Teerfleckenkrankheit in Gärten kaum als Zierbaum verwendet. Sein fast immer mit diesem Pilz befallenes Herbstlaub wird als wenig dekorativ empfunden, selbst wenn es schön bunt gefärbt ist. Der Ahorn und die Teerfleckenkrankheit sind im Gegensatz zur AM in Deutschland nicht neu.
Herbstlaub und Samen des Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus). Bei den schwarzen Flecken auf den Blättern handelt es sich um die Teerfleckenkrankheit, verursacht durch den Pilz Rhytisma acerinum.
Pflanzengifte
Hier steht Ahorn mit seinem Gift „Hypoglycin A“ in dringendem Verdacht. Der AM sehr ähnliche Vergiftungen von Menschen auf Jamaika durch den Genuss unreifer Akeepflaumen, die ebenfalls Hypoglycin enthalten, sind seit langem bekannt.
Mitglieder des AK Umwelt der VFD e.V. untersuchten möglichst viele der Flächen, auf denen Pferde an AM verendet waren, und fanden grundsätzlich zwei mögliche Giftpflanzen auf oder in der Nähe der Flächen: Weidelgras und Ahorn (Vanselow 2010). Als „auf der Fläche vorhanden“ wurde dabei auch gewertet, wenn nur Samen oder Herbstblätter vom Wind über weitere Entfernungen auf die Weideflächen geweht worden waren. Sowohl Ahorn als auch Weidelgras zählen zu den wirtschaftlich extrem intensiv genutzten und angebauten Pflanzen – ihr Vorhandensein auf allen Flächen ist daher quasi vorprogrammiert.
Obwohl vieles für Ahorn als Ursache der AM spricht (Vanselow 2010, van der Kolk et al. 2010, van der Kolk et al. 2013, Bochnia et al 2015), bleiben Zweifel angebracht. Tatsächlich können Pflanzengifte zu Massensterben von Weidetieren führen (Hughes 1990).
Massensterben von Vieh auf Grasland ist selten, aber spektakulär. Hier ein gemeinfreies Foto aus Autralien, entstanden 1907: „Durch giftige Gräser getötetes Vieh, Australien 1907“. (Quelle: Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Pflanzliche_Gifte#/media/File:Cattle_poison.jpg ).
Bei den an Giftpflanzen verendeten Rindern in Australien 1907 könnten giftige, in Australien als Unkraut eingeschleppte Weidelgräser, genauer der Taumel-Lolch, eine Rolle gespielt haben.
Ist es also tatsächlich (immer) Ahorn?
Ahorn fällt auf, vor allem, wenn nach einem langen, trocken-sonnigen Sommer sein Laub besonders bunt ausfällt (Indian Summer). Doch ist er nur Zeuge, der mit seiner intensiven Herbstfärbung eine bestimmter Witterung anzeigt, die die AM begünstigt, oder ist er der bzw. ein Täter?
Wäre der Berg-Ahorn mit seinem Gift Hypoglycin tatsächlich eine so große Gefahr für Pferde, wären dann nicht seit Jahrhunderten entsprechende Vergiftungen im goldenen Herbst aus den Alpen und den Mittelgebirgen bekannt, wo er zu Hause ist? Das harte Holz des Berg-Ahorns mit seinen engen Jahresringen wird in den Bergregionen seit jeher zum Musikinstrumentenbau verwendet. Nicht umsonst ist Mittenwald am Karwendel eine Hochburg des Geigenbaus.
Statt aus der Heimat des Berg-Ahorns kamen jedoch AM sowie die Graskrankheit (Grass Sickness) beide aus Großbritannien auf den europäischen Kontinent. England ist die Hochburg der Weidelgras-Züchtung. Bereits 1677 wurde Deutsches Weidelgras (Englisches Raygras, Lolium perenne) in England zur Futterproduktion angebaut, gezüchtet und (fast) rein gesät (Lenuweit et al. 2002). Leicestershire ist die Heimat der „berühmten, alten Fettviehweiden“ aus Englischem Raigras (Englisches Raygras). Von dort aus trat es seinen Siegeszug weltweit an.
Und noch etwas ist bemerkenswert: Der aus Nordamerika stammende Eschen-Ahorn (Acer negundo), der wegen seines Hypoglycins in seiner Heimat als besonders giftig gilt, wächst als unerwünschter Neophyt munter in deutschen Naturschutzgebieten. Koniks und Rinder sollen ihn dort durch Fraß zurückdrängen. Er stellt bei freilebenden Koniks bisher kein Problem dar. In der Rieselfeldlandschaft Hobrechtsfelde wird der Eschen-Ahorn nur von den Wiederkäuern verwertet und nur, wenn insbesondere im Winter kein alternatives Nahrungsangebot zur Verfügung steht. Vergiftungsfälle gab es keine.
„Im Winter wurden auf Riesel- und Lietzengraben Nord auch in größerem Umfang Eschenahorn und unterständige Pappeln geschält.“ (Zitat aus dem Abschlussbericht, den Sie hier finden).
Schließlich stand ich 2011 im Harz auf einer stark überweideten Fläche, auf der ein Pferd verendet war. Der Tierarzt hatte AM diagnostiziert. Es wuchs dort Deutsches Weidelgras, aber kein Ahorn. Das größte Pferd mit dem größten Hunger, das am schlechtesten unter dem E-Zaun hindurch fressen konnte, hatte es erwischt. Das Shetty hatte wenig gestresstes Gras unterm Zaun hindurch gefressen und erfreute sich bester Gesundheit.
Sollte es uns nicht zu denken geben, dass AM fast immer nur im Grasland auftritt, jedoch fast nie auf Ausläufen, auf denen im Herbst jede Menge Blätter und Samen von Ahorn liegen? Müssten nicht gerade dort Vergiftungsfälle zu erwarten sein, wenn Hypoglycin das Problem wäre? Zumal Ausläufe mit portionierter Fütterung und längeren Fresspausen Hunger auf Frisches und Langeweile entstehen lassen – eine typische Vergiftungssituation, die schon manches Pferd das Leben gekostet hat. Aber gerade da wird AM nicht beobachtet. Warum?
Haben wir etwas übersehen?
Man kann nur finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Das gilt auch für Analysen auf verdächtige Substanzen. Man braucht zumindest eine Idee, wonach man sucht, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass man etwas findet.
Destruenten, also Zersetzer, sind „global players“, weltweit verbreitete Organismen. Sie sind selten auf Regionen beschränkt. Gerade Pilzsporen verbreiten sich schnell über riesige Landflächen. Die AM nahm aber von England aus ihren Weg auf den europäischen Kontinent. Haben wir uns einen neuen Organismus eingeschleppt? Und falls ja, woher? Ein Bakterium wie Clostridium? Einen Laubzersetzer wie Rhytisma? Oder hat es doch etwas mit unseren Futtergräsern zu tun?
Deutsches Weidelgras (Lolium perenne) lebt oft vergesellschaftet mit seinem Pilzsymbionten (Endophyten) aus der Gattung Neotyphodium. Was für Fähigkeiten haben diese Endophyten? Wie verhalten sie sich, wenn ein parasitärer Pilz wie Gelbrost oder ein Fusarium ihr Wirtsgras angreift: Würden sie das Gras gegen den Pilzgegner verteidigen? Wenn ja, womit?
Wenn man Anhaltspunkte sucht, wozu ein Organismus möglicherweise fähig ist, dann schaut man sich am besten seine Verwandtschaft näher an. Gemeinsame Genetik verrät viel über Abstammung und Potenziale. So finden sich Ergotalkaloide bei den Pilzen der Mutterkornverwandten, aber auch bei den Gießkannenschimmeln. Da die Mutterkornverwandten und die Gießkannenschimmel einen gemeinsamen Vorfahren haben, sind die ersten Schritte der Ergotalkaloid-Synthese (Festuclavine, Chanoclavine) in beiden Gruppen identisch – bis es zur genetischen Aufspaltung der Gruppen kam (Coyle & Panaccione 2005).
Auch bei der Suche nach Heil- oder Giftpflanzen wird man schneller fündig, wenn man die Verwandtschaft interessanter Gewächse gut kennt. Neotyphodium wird neuerdings in die Art Epichloë festucae als eigene Gruppe (Variation oder Unterart) eingeordnet. Noch in den 90ern trug dieser Endophyt jedoch den Gattungsnamen Acremonium. Zu was für Biosynthesen sind diese nahen Verwandten unserer Gräser-Endophyten in der Lage?
Tabelle 1 zeigt einige Verwandte von Gräser-Endophyten unserer Wirtschaftsgräser.
Reich |
Fungi |
|||
Abteilung |
Ascomycota |
|||
Ordnung |
Hypocreales |
Eurotiales |
||
Familie |
Hypocreaceae |
Clavicipitaceae |
Nectriaceae |
Trichocomaceae |
Gattungen |
Acremonium, Trichoderma (1) |
Epichlo
ë,
Neotyphodium, Claviceps (2) |
Fusarium (1) |
Penicillium, Aspergillus (2) |
Tab. 1: Verwandtschaft der Gräser-Endophyten und Substanzen, die diese Pilze bilden können: Ergotalkaloide und fungizide bzw. antibiotische Wirkstoffe verwandter Pilzgruppen. Gattungen (1): Zur Synthese antibiotischer bzw. fungizider Mitochondriengifte fähig. Fusarium bildet Ionophore wie Beauvericin und Enniatin. Acremonium und Trichoderma bilden Peptaibole (Acrebol, Cephaibol).Gattungen (2): Zur Synthese von Ergotalkaloiden fähig.
Zur Gattung Acremonium gehören Holz-Zersetzer, die in nassen Gebäuden Schäden anrichten und zu gesundheitlichen Problemen bei deren Bewohnern führen. Deshalb wurden Schimmelpilze dieser Gattung aus verdächtigen Gebäuden in St. Petersburg untersucht (Andersson et al. 2009). Als Ursache der Erkrankungen der Menschen wurde ein Peptaibol namens Acrebol gefunden.
Peptaibole sind Substanzen, die für Säugetierzellen hochgradig giftig sind. Sie zeigen ionophore Aktivität (Chugh & Wallace 2001, Pike et al. 2015), wirken antibiotisch und fungizid (Kumar & Kaushik 2012) und haben eine Affinität zur inneren Mitochondrien-Membran (Andersson et al. 2009, Kruglov et al. 2009).
Wohlgemerkt: Die erkrankten Menschen haben das sich zersetzende Bauholz keineswegs gegessen, sie haben sich nur in den Gebäuden aufgehalten. Dennoch kommen Andersson et al. 2009 zu dem Ergebnis, dass Acremonium exuviarum, ein Pilz, der Innenräume von Gebäuden besiedelt, aufgrund seiner giftigen Peptaibole potenziell gefährlich für die Gesundheit ist.
Fazit
Alles ist offen. Wenn bisher keine Ionophore in an AM gestorbenen Pferden gefunden wurden, wohl aber Hypoglycin aus Ahörnern, so könnten dennoch den Ionophoren ähnliche Substanzen ursächlich für die AM sein. Daher sollte auch nach Peptaibolen gesucht werden. Und falls Peptaibole beteiligt wären, müßte geklärt werden, wer sie produziert hat: frei lebende, angreifende Zersetzer oder verteidigende Endophyten? Wenn Neotyphodium-Endophyten Peptaibole bilden können, dann ist in der Resistentzüchtung der (Futter-, Rasen-) Gräser Sorgfalt bei der Auswahl genetischer Endophyten-Linien oberstes Gebot, damit es nicht heißt: „Resistenz geglückt, Weidetier tot“.
Dr. Renate Vanselow, Dipl.-Biologin
Literatur
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Kruglov A.G., Andersson M.A., Mikkola R., Roivainen M., Kredics L., Saris N.E., Salkinoja-Salonen M.S. (2009): Novel mycotoxin from Acremonium exuviarum is a powerful inhibitor of the mitochondrial respiratory chain complex III. Chem. Res. Toxicol., 22(3):565-73.
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Pike S.J., Jones J.E., Raftery J., Clayden J. und S.J. Webb (2015): Helical peptaibol mimics are better ionophores when racemic than when enantiopure. Org. Biomol. Chem., 13: 9580–9584.
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van der Kolk J.H., R. Boelens, S. B.A. Halkes, I. D. Wijnberg, M. G.M. de Sainvan der Velden & J. H. Ippel (2013): Some notes on fatal acquired multiple acyl-CoA dehydrogenase deficiency (MADD) in a two-year-old warmblood stallion and European tar spot (Rhytisma acerinum). Veterinary Quarterly, 33 (1): 47–51.
Vanselow, R. (2010): Atypische Weidemyopathie: Ahornsamen als Ursache? Starke Pferde, 3 (55): 12-13.
23.03.2017