Mistel
(Botanischer Name: Viscum album)
Nach dem Laubfall im Herbst entdeckt man an vielen Bäumen Mistelkronen. Die Mistel ist eine geheimnisvolle Pflanze, die ihre Blätter auch über den Winter behält, obwohl ihr Wirtsbaum das Laub abwirft.
Die Mistel ist ein Halbschmarotzer. Halbschmarotzer deswegen, weil sie mit ihren Blättern selbst Photosynthese betreibt. Auch die grünen Stängel und sogar die jungen Samen in den transparenten Beeren sind photosynthetisch aktiv. Mit ihren Saugorganen – es sind keine Wurzeln – dringt die Mistel in die Saftleitungen der Bäume ein. Anstatt nur die äußere Rindenschicht zu durchdringen und direkt die Assimilate des Baumes anzuzapfen, dringt sie in den tieferen Bereich ein und entnimmt dort Wasser und Nährstoffe, die aus dem Boden gelöst wurden. Sie ist zweihäusig, es gibt männliche und weibliche Exemplare. Da sie mehrjährige verholzte Zweige ausbildet, zählt man sie zu den Sträuchern. Misteln können bis zu 70 Jahre alt werden.
Ein besonderer Baum
Misteln verhalten sich völlig anders als andere Pflanzen: sie berühren den Boden nicht. Bei ihrer Ausbreitung bedienen sie sich der Vögel, die die klebrigen Samen auf einem Ast vom Schnabel abreiben oder für ideale Keimungsbedingungen für eine neue Mistel sorgen, indem sie nach dem Fraß von Beeren die Samen mit dem Kot auf einem Zweig ausscheiden.
Die Menschen haben die Mistel schon immer beobachtet, weil sie in ihrem Verhalten völlig aus dem Rahmen fällt. Sie blüht oft schon im Februar und die Beeren reifen im Winter – zu einer Zeit, in der die Laubbäume ihre Blätter bereits abgeworfen haben. Die Blätter der Mistel haben Spaltöffnungen auf beiden Seiten. Sie richten sich in alle Richtungen, zur Sonne wie zur Erde hin. Im Winter, wenn der Säftestrom der Laubbäume zum Erliegen gekommen ist und Tanne und Kiefer ihn stark heruntergefahren haben, erzwingt die Mistel durch ihre eigene Verdunstungsaktivität von ihren Wirtsbäumen Wasser und Nährstoffe, sie betreibt weiter im geringen Umfang Photosynthese und lässt jetzt ihre weißen Beeren reifen.
Weißbeerige Mistel
Viscum album L.
Sandelholzgewächse, Santalaceae
Laubholz-Mistel
Viscum album ssp. album
Unterarten
Tannen-Mistel
Viscum album ssp. abietis
Kiefern-Mistel
Viscum ailbum ssp. austriacum
Verwandte Art
Eichenmistel, Riemenblume oder Gelbbeerige Mistel
Loranthus europaeus
Sandelholzgewächse, Santalaceae
Wenn sich eine Mistel auf einem Baum niedergelassen hat und das Saugorgan in die Baumrinde eingedrungen ist, bildet sich ein Blattpaar, das schon die gleiche Form wie die Folgeblätter hat. In den ersten beiden Jahren wachsen die Mistelzweige nach oben zur Sonne hin, ab dem dritten Jahr neigen sich die Zweige zur Erde und bilden nun die typischen Mistelkronen aus, deren Wuchsrichtung dann gleichmäßig in alle Richtungen zeigt. Misteln können bis zu 70 Jahre alt werden und Kronen bis zu einem Meter Durchmesser ausbilden.
Historisches
Aus den klebrigen Beeren der Mistel wurde früher Leim gekocht, um damit Vögel zu fangen. Die Redewendung „Jemandem auf den Leim gehen“ hat seinen Ursprung in dieser Form des Vogelfangs. Viscum – der botanische Name der Mistel – ist von dem gleichlautenden lateinischen Wort für Leim hergeleitet und auch das Wort „viskos“ hat den gleichen Wortstamm. Dieser aus den Beeren ausgekochte Leim wurde auf Ruten gestrichen, es entstanden Leimruten. An diese band man einen Lockvogel, der andere Vögel herbeilockte. Diese ließen sich in der Annahme, hier gäbe es etwas zum Fressen, ebenfalls auf der Leimrute nieder. Da die Drosseln durch ihre Exkremente einerseits für die Ausbreitung der Mistel sorgte, sie andererseits mit Mistelleim gefangen wurden, sagte man: „Die Drossel kackt ihren eigenen Tod.“
„Turdus ipse sibi malum cacat“ klingt auf Latein zwar vornehmer, bedeutet aber dasselbe (zitiert nach Karl Freiherr von Tubeuf, „Monographie der Mistel 1923“).
Die Mistel in der Heilkunde
In der Heilkunde werden die getrockneten jungen Zweige mit Blättern, Blüten und Früchten genutzt. Inhaltsstoffe sind vor allem Lektine, Viscotoxine, Flavonoide, Lignane und Phenol-Carbonsäuren. Misteltee oder auch entsprechende Fertigpräparate mit Mistelextrakten dienen zur Unterstützung des Kreislaufs bei Neigung zu Hypertonie sowie zur Stimulierung des Immunsystems.
Rudolf Steiner
Rudolf Steiner schaute genau hin und kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Mistel, um sie in der Krebstherapie zu nutzen. Er schloss aus der Signatur der Mistel, wie sie sich auf Bäumen festsetzt und darauf auch ausbreitet, dass Mistelpräparate eine wirksame Bekämpfung von Krebszellen sind. Ihr Durchdringen fremden Gewebes zeigte ihm die Analogie zu tumorösem Gewebe. Anthroposophische Mistelpräparate werden getrennt nach verschiedenen Mistelsorten (je nach Wirtsbaum, z. B. Apfelbaum, Kiefer, Tanne oder Eiche) hergestellt. Für Brustkrebspatientinnen nach den Wechseljahren beispielsweise kann die Mistel der Kiefer gewählt werden. Sehr selten, aber allgemein gut verträglich sind die Misteln, die auf Eichen wachsen. Hierzu ausdrücklich der Hinweis, denn es wird immer wieder bestritten: ganz selten gibt es Viscum album-Arten, also weißbeerige Misteln, die auf der Eiche vorkommen. Darüber hinaus gibt es eine verwandte Art, Loranthus europaeus, die man auch als Eichenmistel oder Riemenblume bezeichnet. Sie hat längliche Blattpaare und bildet gelbe Beeren aus und kommt hauptsächlich in Südeuropa vor. Im deutschsprachigen Gebiet gedeiht sie in den wärmeren Regionen des Donauraums und es gibt ein kleines Vorkommen in der Sächsischen Schweiz. Wegen ihrer Seltenheit ist sie geschützt und wegen eben dieser Seltenheit genossen diese Misteln bei den Druiden besondere Wertschätzung. Zur Ernte legte man weißes Leinen unter die Eichen und beim Auflesen erfasste man besondere Inhalte und Botschaften. Aus diesen aufgelesenen Botschaften der Mistelzweige sollen sich die Runenzeichen entwickelt haben. Misteln wurden mit bronzenen Sicheln geschnitten, denn goldene Sicheln wären zu weich gewesen für diese Arbeit, das funktionierte nur bei Miraculix.
Heute sind Mistelpräparate in der alternativen – insbesondere der anthroposophischen – Krebstherapie das Mittel der Wahl. Die Mistel hemmt entzündliche Prozesse, stärkt die Zellabwehr gegen die Krebszellen und verbessert insgesamt Vitalität und Lebensqualität. Misteltee hilft auch mit den Folgen von Bestrahlungen und Umweltgiften besser fertig zu werden. Misteln, die auf Linde, Robinie und Pappel gedeihen, enthalten höhere Konzentrationen des Viscotoxins als Misteln, die auf Apfelbäumen wachsen. Ahornmisteln haben den höchsten Gehalt an Viscotoxin; sie alle werden in der Heilkunde nicht verwandt. In höheren Dosen kann es durch diese Misteln zu Magen- und Darmbeschwerden kommen. Das beförderte die Vorurteile gegen diese alte druidische Heilpflanze, die den Kelten heilig war.
Hildegard von Bingen nutze sie äußerlich bei Frostbeulen und erfroren Gliedmaßen, Sebastian Kneipp nutzte sie als blutstillende Pflanze. Die Volksheilkunde unterstellte bei Epilepsie Besessenheit und empfahl dagegen die Mistel, die von ihrer Signatur her Besessenheit darstellt. Ihre späteren Namen wie Hexenbesen, Teufelsholz oder Drudenkraut weisen auf die Verteufelung und Diskreditierung der Mistel durch christliche Missionare hin.
Grünfutter im Winter, aber aufpassen!
Nach Stürmen heruntergebrochene Büsche der Nadelholz-Misteln und männliche Exemplare der Laubholz-Mistel von Apfelbäumen sind im Winter bei Rot- und Rehwild, bei Rindern, Schafen und Ziegen ein willkommenes Grünfutter. Pferde und Kaninchen sollten trotzdem nur in geringen Dosierungen damit versorgt werden – Pferde bis 30 bis 100 g am Tag, Kaninchen 5 bis 10 g am Tag, berechnet als Frischmasse!
Achten Sie dabei auf Apfelmistel oder die Misteln von Nadelhölzern! Die weiblichen Büsche sollten allerdings wegen ihrer stark klebrigen Beeren als Futter gemieden werden, da sie im Rachen hängenbleiben können oder sie die Speiseröhre verkleben. Deswegen wird vor dem Verzehr der frischen Beeren dringend gewarnt.
Mistelzauber
Wenn Sie die Mistel in Ihrem Adventsgesteck verarbeiten oder sie erwartungsvoll über die Tür hängen, denken Sie daran, dass die Mistel einen uralten Heilzauber ausübt. Als heilige und besonders reine Pflanze gehört sie völlig zum Luftelement und wehrt böse Luftgeister ab.
Das Küssen unter der Mistel soll ewige Liebe bringen. Damit die Liebe erhalten bleibt, sollte man den Zweig nach den Feiertagen verbrennen.Wenn die Mistel keine Beeren mehr hat, sollte man sich auch nicht mehr darunter küssen. Schauen Sie also beim Küssen genau hin – nicht nur auf die Mistel!
Wer sich mit der Mistel befasst, bleibt an ihr kleben. Lassen Sie sich von ihrer Magie berühren. Jetzt ist die ideale Zeit dazu.
Manfred Heßel, Dipl.-Ökologe und Phytotherapeut
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