Insekten

Entsteint Euch!

Irgendwo in Deutschland in einem Wohngebiet mit Einfamilienhäusern: Seit zwanzig Jahren geht Herr Müller jeden Morgen den gleichen Weg zur Bushaltestelle, um zur Arbeit zu fahren. Immer hat er die Ruhe des frühen Morgens genossen, vor allem im Sommer, wenn die Rosen dufteten und die ersten Schmetterlinge des Tages um die üppig blühenden Stauden in den Vorgärten der Häuser geflattert sind. Doch seit einigen Jahren ist der Genuss mehr und mehr getrübt. Denn ein Vorgarten nach dem anderen wird umgestaltet. Die Pflanzen werden entfernt, stattdessen werden tonnenweise Kies oder Schotter in die Flächen geschüttet. Ein paar wenige immergrüne Gehölze ragen wie Mahnmale aus den Steinflächen heraus. Vorbei ist es mit Düften und Farben, mit Summen und Flattern, mit dem sinnlichen Erlebnis. Was ist geschehen?

Entwicklung

Diese Entwicklung beginnt – wie so vieles in Deutschland – mit dem Zweiten Weltkrieg. Sie beginnt mit Menschen, die noch die kargen Kriegs- und Nachkriegsjahre miterlebt haben, in denen Hunger ein ständiger Begleiter war. Sie haben in ihrem Garten Obst, Gemüse und Kartoffeln angebaut und wenn möglich noch Kleintierhaltung betrieben. Damit konnten sie ihren Speiseplan bereichern und später das Haushaltseinkommen anheben. Naturschutz? Ökologie? Biodiversität? Diese Begriffe waren damals in der Gartenpraxis nicht relevant. Es ging in erster Linie darum, das ganze Jahr preiswerte Nahrungsmittel auf den Teller zu bekommen.

Und genau hier, bei dieser Generation, setzt der Verlust der Artenvielfalt, des Gartenwissens und der Gartenkultur ein. Denn diese Generation hat zwar viel Gartenwissen von ihren Eltern übernommen und selbst viel Erfahrung dazugewonnen, aber sie verbanden mit dem Garten vor allem harte Arbeit und die Erinnerung an Notzeiten. Das wollten sie ihren eigenen Kindern nicht zumuten.

Wer als Kind oder Jugendlicher im „Nachkriegs-Garten“ der Eltern stundenlang bei der Bodenbestellung, dem Unkrautjäten oder der Ernte und Verarbeitung mithelfen musste statt Fußball zu spielen oder auf Bäume zu klettern, der war froh, als es endlich in den Geschäften alle Lebensmittel preiswert zu kaufen gab. Dadurch konnte man als junger Erwachsener den Selbstversorgungs-Garten der Eltern endlich zu einer großen Rasenfläche umwandeln, auf der die eigenen Kinder dann Fußball spielten.

So war in den 70er– und 80er–Jahren ein großer Teil des Gartenwissens schon verloren gegangen. Die Gärten wurden immer steriler und kälter, Zierrasen breitete sich aus, der Anteil der Fläche zur Nahrungsmittelerzeugung ging steil zurück. Dennoch: Obwohl das Artenspektrum sank, waren Gärten wenigstens immer noch grün, d. h. mit Pflanzen bestückt.

Steinreich statt artenreich

Die Entwicklung ging aber noch weiter. Mit der Jahrtausendwende  hat sich langsam aber sicher ein neuer „Trend“ etabliert – nicht nur in den Vorgärten, sondern in allen Gartenformen: Landauf, landab findet man mittlerweile Flächen, bei denen die Steine im Vordergrund stehen. Großflächig werden Mengen an Schotter und Kies in „Pflanz“-Flächen geschüttet. Doch Pflanzen werden in solchen Konzepten nur noch rudimentär als Dekorationselemente benutzt und oft nicht standortgerecht verwendet. Die Bedeutung der Pflanze und damit die Artenvielfalt sind nochmals drastisch zurückgegangen. 

Von Gärten kann hier nicht mehr gesprochen werden. Denn ein Garten ist per Definition ein Ort, der mit Pflanzen begrünt ist. Dieser Trend begleitet die Menschen in nahezu allen Lebenszeiten und allen Gartenformen. Von der „Einsteinung“ öffentlicher Gebäude wie Krankenhäuser, Behörden, Versicherungen über städtische „Grün“-Flächen, Haus- und Kleingärten bis hin zum Ende der menschlichen Existenz, den Friedhöfen: sprichwörtlich von der Wiege bis zur Bahre!
Steinreich statt artenreich. Warum?

Unterschiedliche Bedürfnisse

Bei den Privatgärten kann man zwei Gruppen ausmachen, die den „Versteinerungs-Trend“ in ihren Gärten vorantreiben. Die eine Gruppe sind Menschen, die zwar noch ein profundes Gartenwissen besitzen. Sie sind aber mittlerweile in die Jahre gekommen und können den eigenen Garten nicht mehr allein bewirtschaften. Die andere Gruppe – jüngere, erwerbstätige Menschen – hat auch Gärten. Ihnen fehlt jedoch oft das von den älteren Generationen nicht mehr überlieferte Gartenwissen und vor allem die Zeit. Hinzu kommt, dass aus ökonomischen Gründen beide  Partner arbeiten und dass die Anforderung an Mobilität und Flexibilität immer höher wird. Andere Aktivitäten sind weniger anspruchsvoll und einfacher zu handhaben. So kann im Gegensatz zum Garten eine Mitgliedschaft in einer Fitnessclub-Kette meist problemlos beim berufsbedingten Wegzug mitgenommen werden. Beide Gruppen suchen nach der Lösung für ihr Problem: Und die heißt „pflegeleichter Garten“! Wer auch immer diesen Begriff geprägt hat, hat damit einen Erdrutsch in der Gartenkultur eingeleitet! Denn den Besitzern solcher „Steinwüsten“ wird suggeriert, dass pflegeleicht = gar keine Arbeit bedeutet! Dass die so gestalteten Flächen also stabil sind, sich nicht mehr verändern, genau so bleiben. Und genau das ist der Gegensatz zu „richtigen“ Gärten, die sich dynamisch und lebendig entwickeln, wachsen und niemals fertig sind!

Individuelle Lösungsansätze sind gefragt

Was aber kann man den 80-jährigen Senioren empfehlen, die körperlich nicht mehr in der Lage sind, ihre Gärten zu bewirtschaften und zu pflegen? Was empfiehlt man berufstätigen Menschen, die arbeits- und oft auch freizeitmäßig stark eingebunden sind, aber trotzdem einen schönen Garten wollen?

Ist der Schottergarten wirklich pflegeleicht?

Zunächst einmal muss ganz klar festgestellt werden: Einen Garten ohne Pflege gibt es nicht. Und der „Schottergarten“ wie oben beschrieben – so man ihn denn noch als „Garten“ bezeichnen mag – ist durchaus nicht die Gestaltungsvariante mit dem geringsten Pflegeaufwand!

Werner Ollig
Heike Boomgaarden
Dr. Birgitta Goldschmidt, Diplom-Geoökologin

Lesen Sie auch den zweiten artgerecht-Artikel zu Entstein Euch

01.12.2018

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